Stolpersteine für Familie Meininger
Stolpersteine für Familie Meininger (Aenne, Eugen, Hildegard, Franz Josef)
Lotzestraße 20 a
verlegt am 07. Februar 2018
Wir erinnern hier an Aenne Meininger und ihre Familie. Wenige Fragmente sind erhalten von ihr, ihrem Mann Eugen und ihren beiden Kindern, Hilde und Franz-Josef. Letzte Postkarten und Briefe dieser Frau hat die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem gerade erst im Internet veröffentlicht – ein unglaublicher Zufall. Unter den ungezählten Opfern der Shoah wählte man wenige Menschen aus: Aenne Meininger ist darunter. Wir lesen dort einen Brief von 1942 zum Geburtstag ihrer Tochter Hilde, die einige Jahre zuvor jung verheiratet mit Robert Garti nach Bulgarien emigriert war.
Aenne schreibt aus einem französischen Internierungslager. Der Wehrmachtszensur unterworfen, verbirgt sie ihren Verwandten die Situation. Eine befreundete Internierte notiert einige Zeilen am Schluss: „Wir teilen alle dasselbe Los und müssen uns eben gegenseitig trösten.“ Ob sie wussten, was ihnen bevorstand, bleibt in diesem Brief offen.
30 Jahre zuvor hatte Aenne Stern, eine aus gutbürgerlichem Haus stammende deutsche Jüdin aus Mainz, mit Eugen Meininger in Göttingen die Ehe geschlossen. Kaum 100 m entfernt von hier, im 1. Stock der Schillerstraße 6, begannen Sie ihr gemeinsames Leben. Eugen Meininger führte damals mit seinem Cousin Harry jene Viehhandlung weiter, die in der Düsteren Straße / Hospitalstraße 1873 von Vater und Onkel gegründet worden war. Bis heute kann man bei genauem Hinsehen in der baufälligen Fassade des Hauses die Inschrift „Gebrüder Meininger“ lesen. Der Betrieb wurde 1908 als Kaiserlicher Hoflieferant ausgezeichnet, eine Büste des Kaisers als Auszeichnung geht in den Familienbesitz über.
Im Alter von 38 Jahren, 1917, erhielt Eugen Meininger den Gestellungsbefehl zum Kaiserlichen Heer. Er wurde Mitglied im Reichsbund jüdischer Frontkämpfer und machte sich nach Kriegsende gegen die antisemitischen Anfeindungen durch Freicorps und Dolchstoßlegende stark.
Der wirtschaftliche Niedergang infolge des Krieges wirkte sich insgesamt auch auf den Betrieb der Meininger-Cousins aus. 1926 teilte man die Vermögenswerte des Gesamtbetriebes, und Eugen übernahm aus der elterlichen Firma gleich hier um die Ecke, in der Lotzestraße 22, einige Stallungsgebäude zur Miete. Ebenfalls 1926, im Jahr der Geschäftsneugründung, erhielt Aenne die Vollmacht für die Betriebsführung; da ist ihr Sohn Franz-Josef 5 Jahre alt, und Hilde besucht die 7. Klasse des Lyceums, des heutigen Hainberggymnasiums. 1931 werden Franz-Joseph und Ludwig Meininger, sein Cousin, in die Oberschule für Jungen aufgenommen, für die 1928 ein Neubau errichtet worden war – das heutige Felix-Klein-Gymnasium.
Das bald folgende bedrückende Schicksal Ludwigs ist in Umrissen aufgearbeitet:
Umrahmt von der wachsenden Judenfeindschaft der Universitätsstadt, nimmt sich 1934 aus nicht zweifelsfrei zu klärender Ursache der Neffe Eugen Meiningers kurz nach seinem 14. Geburtstag das Leben.
Franz-Josef, der unsere Schule vermutlich in derselben Jahrgangsstufe wie sein Cousin Ludwig besuchte, hatte da bereits die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen der Machtübernahme der Nationalsozialisten erfahren: Im Oktober `33 musste er mit seinen Eltern und seiner Schwester aus der gutbürgerlichen Wohnung in der Schillerstraße ausziehen.
Die Meiningers wohnen nun hier in diesem Haus, in der Lotzestraße 20a. So beginnt die völlige Zerrüttung des alteingesessenen Betriebes durch die antijüdischen Zielsetzungen der NS-Politik. Alex Bruns-Wüstefeld hat in zahlreichen Skizzen umrissen, wie Eugen Meininger um Ruf und Umsatz kämpft, wie ihm auf Anordnung der Stadt Göttingen 1934 schließlich wichtige und sehr alte Geschäftsbeziehungen zum Rosdorfer Rittergut untersagt werden.
Sein Vermieter Sax berichtet später, wie er Eugen Meininger damals erlebt habe: „Herr Meininger sagte mir, dass dies das Ende seines Viehhandels bedeute. Ihm wurde dabei so schlecht, dass er sich am Zaun festhalten musste und dann kaum noch seine Wohnung erreichen konnte. Er war völlig gebrochen.“
Lange überlebt Eugen Meininger diese Demütigung und wirtschaftliche Bedrohung nicht. Noch 1935 entzieht ihm die Stadt Göttingen die Gewerbeerlaubnis. Am selben Tag stirbt er an einem Herzanfall hier in diesem Haus, in der Lotzestraße 20a.
Tochter Hilde, die einen jüdischen Zahnmedizin-Studenten bulgarischer Herkunft in Göttingen kennen gelernt hatte, heiratet Robert Garti im Herbst desselben Jahres und emigriert mit ihm wenig später in dessen Heimat. 1948 emigriert die Familie von dort nach Palästina.
Ihr Bruder Franz-Josef, kaum 16 Jahre alt, beschließt vor dem Hintergrund der Entwicklungen den eigenen Bildungsweg am Gymnasium zu beenden, das in der gleichgeschalteten Presse für seinen hohen HJ-Anteil gelobt wird. Er geht im November 1936 als Mitglied des jüdischen Pfadfinderbundes ins brandenburgische Ahrensdorf. Dort befindet sich ein – von der Gestapo geduldetes – landwirtschaftliches Lehrgut der zionistischen Auswanderungs-Bewegung. Wenig später gelingt ihm über Luxemburg der Weg nach Palästina; dort meldet er sich nach Kriegsbeginn zu einer jüdischen Brigade der britischen Armee im Mandatsgebiet. Bei Gründung des Staates Israel baut er einen Moshav mit auf, nördlich von Tel Aviv.
Zurück in Göttingen blieb die Mutter: Aenne Meininger versuchte sich mit einem kleinen Ölhandel durchzuschlagen, den ihr Mann noch 1935 gegründet hatte. Sie zog 1936 ins heimische Mainz, kehrte aber ein halbes Jahr später wieder nach Göttingen zurück, wo sie in der Gotmarstraße 9 notdürftig unterkam.
Nun verlieren sich ihre Spuren bis zu den Briefen aus Yad Vashem immer mehr. Von Ihrer Enkelin erfahren wir, dass Aenne zwischen 1936 und 40 nicht nur ihre Familie in Bulgarien besuchte, sondern sogar ihre Schwester in den USA. Weshalb kehrte sie von dort nach Europa, nach Deutschland zurück? Lag es an einem ablaufenden Touristenvisum? Hoffte sie auf Tochter und Schwiegersohn in Bulgarien? Quellen-Fragmente zeigen, dass sie 1940 nach Paris geflohen war. Die aus der letzten Lebenszeit in Frankreich überlieferten Postkarten sind in sicherem Französisch von ihrer Handschrift verfasst. Auch Verweise auf Kontaktpersonen an unterschiedlichen Orten Frankreichs deuten darauf hin, dass sie vielleicht meinte, hier am ehesten der Verfolgung entgehen zu können. Mochte sie sich durch die Beherrschung der Sprache sicherer fühlen? Wir wissen es nicht.
Sehr bald wurde sie in Frankreich interniert. Die längste Zeit, zwischen 1940 und 1942, verbrachte sie im südfranzösischen Lager Gurs. Yad Vashem dokumentiert die Postkarten, die sie von dort ihren Enkeltöchtern nach Bulgarien schickt. In inniger großmütterlicher Liebe schreibt sie den kleinen Mädchen, als käme sie in wenigen Wochen mit Geschenken zu Besuch.
Nach 2 Jahren Internierung wird sie im August 1942 in ein neues Lager überstellt: Camp Les Milles, wo sie nur wenige Tage bleibt. Aus dieser Situation ist vom 1. September 1942 ihr letztes Schreiben überliefert: Sie berichtet ihrer Tochter von einer bevorstehenden Abreise, der Eile des Kofferpackens. Und immer wieder von der Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Als Postscriptum setzt sie hinzu: „Lebt recht, recht wohl. Ausgerechnet an Franzens Geburtstag gehe ich fort –“
So wurde sie ins Sammellager nach Drancy verbracht. Bereits eine Woche später, am 7. September – einem Tag nach ihrem 53. Geburtstag – musste sie in die Waggons nach Auschwitz steigen.
Ihre Tochter Hilde hat später Yad Vashem überliefert, Aenne Meininger sei bereits während dieses Transportes verstorben.
(Text: Nina Fehr, 9mn; Felicitas Knerr, 9mn, Schülerinnen des Felix-Klein-Gymnasiums Göttingen (FKG), Dr. Justus Goldmann, Arbeitsgruppenleitung am FKG)
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